S. Høgetveit Berg u.a. (Hrsg.): Secular Canons in Medieval Europe

Titel
Secular Canons in Medieval Europe. Diversity under Common Canon Law


Herausgeber
Høgetveit Berg, Sigrun; Otto, Arnold
Reihe
Studien zur Germania Sacra. Neue Folge
Erschienen
Berlin 2023: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 176 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Kranz, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der Sammelband „Secular Canons in Medieval Europe“ geht auf eine Reihe von Sessions beim International Medieval Congress in Leeds aus dem Jahr 2018 zurück und erscheint als Band 14 der Studien zur Germania Sacra, Neue Folge. Ziel dieses Bandes ist es, die Weltkleriker und die von ihnen besetzten Institutionen der Domkapitel und Kollegiatstifte während des europäischen Mittelalters in vergleichender Perspektive zu beleuchten. Diese Herangehensweise setzt sich von der bisherigen Forschung ab, wie in dem einleitenden Aufsatz von Arnold Otto erläutert wird. Denn trotz eines scheinbaren Interesses seitens der Forschung an diesem Themenkomplex gehen bisherige Arbeiten selten über die Beschreibung einzelner Institutionen hinaus und lassen Gesamtdarstellungen oder synthetisierende Untersuchungen vermissen (S. 2f.). In diesem Sammelband werden mehrere Dom- und Kollegiatstifte aus unterschiedlichen Regionen Europas vorgestellt und unter dem Gesichtspunkt neuer Forschungsansätze betrachtet, die über eine Institutsgeschichte hinausgehen. Die Gliederung spiegelt dieses Vorhaben wider: Die in den Aufsätzen vorgestellten Domkapitel und Kollegiatstifte reichen von Skandinavien bis Süditalien und behandeln einen zeitlichen Rahmen vom 11. bis ins 16. Jahrhundert.

In einem Personenregister werden alle im Text vorkommenden Personen aufgeführt, was gezieltes Suchen einzelner Kanoniker vereinfacht. Besonders hervorzuheben ist die tabellarische Aufführung in Anna Kowalska-Pietrzaks Aufsatz der von ihr behandelten Klerikern (S. 103–106). Neben dem Todesjahr sind deren Funktionen und institutionelle Zuordnungen aufgeführt. Wünschenswert wäre einzig eine Gesamtbibliographie gewesen. Dies hätte die Zugänglichkeit der komplexen Forschungslage für zukünftige, systematisierende Arbeiten vereinfacht.

Im Folgenden sollen mit Netzwerken bzw. Besetzungsstrategien und -mechanismen zwei Schwerpunkte vorgestellt werden, welche die Aufsätze miteinander verbinden. Hierbei sei darauf hingewiesen, dass es sich nicht um vorgegebene Strukturierungskategorien innerhalb des Sammelbandes handelt; die Punkte werden allerdings in unterschiedlich ausgeprägter Form von allen AutorInnen behandelt. Die Kategorien sind nicht trennscharf voneinander abzugrenzen, sondern sind als sich bedingend und ineinandergreifend zu verstehen.

Domkapitel bilden mit ihren Säkularkanonikern auf vielfältige Art und Weise Netzwerke aus. Diese Erkenntnis hebt schon Otto Arnold in seinen einführenden Worten als verbindendes Ergebnis der Beiträge hervor (S. 13). Hierbei sind z. B. familiäre Netzwerke zu identifizieren, wie sie Sigrun Høgetveit Berg mithilfe der Familie Saxe Gunnarssons in Nidaros nachweist. Saxe wurde 1492 als Dekan benannt, nachdem er bereits früher als Kanoniker vor Ort tätig gewesen war. Er konnte sich durch seine familiären Verbindungen in der Region Trondenes gegen andere Kandidaten durchsetzen. Neben regionalen Kenntnissen war er durch seinen Bruder Engelbrekt mit der lokalen Elite verbunden, die sich im Stockfischhandel betätigten. Gleiches gilt für seinen anderen Bruder, Aslak, der ebenfalls im Handel tätig war. Durch diese einflussreichen Verbindungen gelang es den Neffen Saxes, klerikale Positionen zu besetzen, und im Falle von Olav Engelbrektsson, bis zum Erzbischof aufzusteigen (S. 26f.). Auch bei Jörg Wunschhofers Aufsatz, der sich unter anderem mit der Frage beschäftigt, welche Mechanismen bei der Präbendierung im Paderborner Domkapitel wirkten, spielen Netzwerke eine Rolle. Er kann nachweisen, dass Kanoniker sowohl im Spätmittelalter als auch in der frühen Neuzeit fast ausschließlich aus dem alten westfälischen Adel stammten. Die Familienverbände besetzten häufig wichtige Schlüsselpositionen wie die des Thesaurars oder des Kustos innerhalb der Verwaltung des Domkapitels (S. 78–81). Familien und deren Vernetzungen werden ebenfalls von Jochen Johrendt in seiner Betrachtung des römischen Kapitels von St. Peter behandelt. Er stellt unter anderem die Frage, aus welchen sozialen Schichten die örtlichen Kanoniker stammten. So kann er nachweisen, dass das Kapitel etwa seit dem 13. Jahrhundert durch die Familie Conti geprägt war. Aber auch mit den Contis vernetzte, der niederen Nobilität angehöhrenden Familien hatten durch ihre Verknüpfung miteinander gute Chancen auf eine Präbende in St. Peter. Zu diesen gehörten etwa die Familie Judice und Tebaldi. Johrendt hebt jedoch hervor, dass die Contis und deren verbündete Familien nur einen Teil des Kapitels ausmachten und lediglich 46 von 232 Kanonikern diesem Verband zuzuordnen sind (S. 122–124).

Abseits von diesen familiären Netzwerken bildeten Kanoniker innerhalb und außerhalb klerikaler Strukturen Verflechtungen. So kann Anna Kowalska-Pietrzak eindrucksvoll für Łęczyca in Polen anhand mehrerer Kanonikerkarrieren nachweisen, dass es Zusammenhänge zwischen der Besetzung bestimmter Positionen innerhalb des Kollegiatstifts und dem wachsenden Einfluss des Erzbischofs von Gniezno gab. Auch außerhalb des Hofes des Erzbischofs dienten Kanoniker den Herzögen oder Königen. Jan Lutkowic etwa war Kantor im Kollegiatstift und agierte neben seiner Tätigkeit als Sekretär von Vytautas dem Großen und Władysław II. Jagiełło auch als Gesandter verschiedener Fürsten. Er nutzte seinen Einfluss und verschiedenen Verbindungen innerhalb des kirchlichen und weltlichen Netzwerks, um bis zum Bischof von Krakau (1461–1471) aufzusteigen (S. 93–95). Kowalska-Pietrzaks Untersuchungen veranschaulichen sehr überzeugend, dass familiäre und außerfamiliäre Verbindungen (S. 96–99) ein nicht unwesentlicher Faktor bei Karrieren der Kleriker in ihrem Untersuchungsgebiet waren.

Eng mit Netzwerken sind Besetzungsstrategien und -mechanismen der Kapitel verbunden. Auch dieser Untersuchungsgegenstand zieht sich durch viele Aufsätze und gestaltet sich aufgrund der strukturellen Vielfalt der Domkapitel und Kollegiatstifte ebenfalls sehr unterschiedlich. So wurde bereits die familiäre Zugehörigkeit, wie es in den römischen Kapiteln der Fall war, oder auch die Herkunft aus einer bestimmten sozialen Schicht, wie etwa aus dem Adel für das Paderborner Domkapitel, als vorteilhaft und in einigen Fällen unabdingbar erörtert. Für die Regionen des heutigen Dänemark und Schweden untersucht Anna Minara Ciardi die Anfänge der Kapitel seit dem 11. Jahrhundert. Ihr Ziel ist es, den Prozess der Formierung der Domkapitel anhand von deren konstitutionellen Eigenarten und am Beispiel von Karrieren einzelner Domherren darzulegen. Sie kann überzeugend darstellen, dass eine adlige Abstammung als Zugangsvoraussetzung nicht erforderlich war. Trotzdem hebt Ciardi hervor, dass lokale Kanoniker häufig aus dem Umfeld der königlichen Familien oder der örtlichen Nobilität stammten (S. 35f.). Anfangs setzten die Kapitel in Ribe und Lund zudem auf auswärtige Kleriker. Mit dieser Strategie sollten nicht zuletzt Wissen, Expertise und auch Texte in den Norden gebracht werden. Dies verdeutlicht die Autorin am Beispiel der Karriere von Hermann von Klosterrath, dem späteren Bischof von Schleswig, der im 12. Jahrhundert als Kanoniker in Lund erwähnt wird. In seiner Tätigkeit vermittelte er zudem bei Konflikten zwischen Lund und dem Erzbistum Hamburg-Bremen. Hermann ist beispielhaft für das Bestreben der Kapitel, sich Mediatoren für Verbindungen nach Mitteleuropa, Wissen und Ideale zu rekrutieren.

Dass die Kapitelherren jedoch nicht überall über die Zusammensetzung und die Rekrutierung selbst bestimmen konnten, zeigt der Artikel von Antonio Antonetti mit seiner umfassenden Darstellung der süditalienischen Kapitel. Aufgrund der äußeren politischen Faktoren wurden zum Beispiel die Struktur des Kathedralkapitels in Lucera durch König Karl II. von Anjou nach französischem Vorbild umgestaltet, die Anzahl der Kanoniker reduziert und neue Regelungen für die Besetzung der Präbenden geschaffen. Der König hatte das alleinige Recht auf die Einsetzung der höchsten Dignitäten. Somit wurden die lokalen Kleriker von der Mitbestimmung über die höchsten und lukrativsten Ämter ausgeschlossen. Antonetti verdeutlicht mit seinen Ausführungen, dass Besetzungsstrategien nicht immer nur auf das Wohl des Kapitels oder der Optimierung des liturgischen Dienstes abzielten – sie konnten von außerhalb kommen und bewusst bestimmte Gruppen stärken oder schwächen (S. 146–149). Ein ähnliches Bild zeichnet auch Emanuele Curzel mit seinen Untersuchungen zu vier Karrieren von Klerikern aus Trient. Er weist nach, dass seit der Herrschaft Friedrichs IV. von Tirol ebenfalls Eingriffe des Grafen häufiger wurden und dass Stühle im Domkapitel von Trient nun oft an Angehörige des fürstlichen Hofes gingen (S. 109f.). Vor dem 15. Jahrhundert beruhte die Zusammensetzung des Kapitels auf bischöflichen Entscheidungen und Selbstverwaltung der Kanoniker. So gelang es etwa dem Kleriker Vigil, aus einer niedrigen sozialen Schicht in die Reihen der Domherren aufgenommen zu werden. Curzel erklärt dies damit, dass sich Vigil vor allem durch sein Engagement im liturgischen Bereich auszeichnete und ihn das Kapitel als vorbildhaftes Beispiel für ein neues Klerikerideal einsetzte (S. 109).

Ein weiteres wiederkehrendes Element bei der Besetzung der Stühle in den Domkapiteln und Kollegiatstifte war die Provision durch den Papst. Kirsi Salonens Aufsatz zielt besonders auf diesen Mechanismus ab, indem sie unterschiedliche Fälle des Domkapitels in Turku analysiert. Besonders hervorzuheben ist ihre kritische Auseinandersetzung mit Suppliken und Provisionsbriefen sowie deren Überlieferungsbedingungen (S. 55–57). Bei ihren ausgewählten Fallbeispielen von Provisionen kann sie überzeugend darlegen, dass nicht alle Provisionen von Erfolg gekrönt waren und zu einem Sitz im Kapitel führten. So hatte etwa Ingeldus Johannes, ein Priester aus dem Erzbistum Uppsala, trotz päpstlicher Bestätigung sein Kanonikat nie angetreten, auch wenn die vatikanischen Quellen diesen Schluss nahelegen (S. 61). Salonen verdeutlicht, dass Petitionen kein Garant für den Erhalt einer Stelle waren und Provisionsbriefe ebenfalls kein endgültiger Beweis für die Besetzung von Stühlen im Domkapitel sind. Sie plädiert für eine Kombination mehrerer Quellen, um Fragen zum Erfolg oder Misserfolg bei Erlangen eines Kanonikats zu beantworten (S. 67f.).

Insgesamt gelingt es den AutorInnen, durch detailreiche Studien einzelner Domkapitel und Kollegiatstifte die bisherige Forschungslandschaft zu Kanonikern um zahlreiche Aspekte zu ergänzen und zu erweitern. So steht nicht mehr nur die Verfassungsgeschichte der jeweiligen Institutionen im Vordergrund, sondern die VerfasserInnen rücken andere Ansätze wie die Prosopographie sowie die Erforschung von Karrieren, Ökonomie, Besetzungsstrategien und Netzwerke in den Fokus ihrer Untersuchungen. Zu den größten Stärken des Sammelbandes gehört neben der Vielfalt der Ansätze vor allem der europäische Rahmen, der nicht nur die Diversität der Institutionen verdeutlicht, sondern erste Anhaltspunkte für vergleichende und systematisierende Arbeiten bietet.

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